Jenni Roth in Die Welt
Der Horror kommt später, am Abend, vor dem Teller mit dem Fleisch. “Die hacken das einfach klein, samt Knochen und Sehnen.” So wie sie es auch mit den Menschen machen.
Es herrscht Krieg in Bosnien, 1993. Wolfgang Bellwinkel ist mit einem Freund im Kanton Zenica/Doboj im Landesinnern unterwegs. In einem Tunnel werden sie angehalten. Ein Granatenangriff. Blutspuren verteilen sich fein über dem Schriftzug “Humanitarian Aid” eines Uno-Fahrzeugs, davor liegt ein Körper, eigentümlich verdreht. Bellwinkel behält die Nerven. Das Adrenalin hilft ihm, das richtige Objektiv aufzuschrauben, den Blitz aufzusetzen, das Bild scharf zu stellen. Er drückt ab.
Das Foto, das entsteht, gehört zu der Serie “Die Alltäglichkeit des Krieges”, die Bellwinkel 1994 veröffentlichte. Und doch ist das Foto eines der wenigen mit Blut, Waffen, Schießereien. Grauenerregende Leichenbilder würden Bellwinkels Mission nichts nützen: “Damit die Leute anfangen nachzudenken, müssen sie ja hinschauen können.” Bellwinkel hat das fotografiert, wofür Radovan Karadzic, der damalige Präsident der Serbenrepublik in Bosnien und Herzegowina, jetzt im Hochsicherheitstrakt des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag büßen soll: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Und doch wollte der Wahlberliner nicht Soldaten an der Front zeigen. “Ich will zeigen, wie Menschen im Alltag um ihr Leben kämpfen.” Menschen, die drei Kilometer zu Fuß gehen müssen, um Wasser zu holen und auf dem Schwarzmarkt Essensreste suchen.
Von 1993 bis 1996 zog er mit seiner Kamera durch Bosnien. Die Serie “Nachkriegszeit”, die Fortsetzung von “Die Alltäglichkeit des Krieges”, tourt seit Jahren im Rahmen einer Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen durch die Welt. Sie kombiniert Landschaften, Interieurs und Portraits – aus jedem spricht noch der Schrecken und schon der Augenblick der Besinnung. Eine komplexe Formensprache und die vorsichtige Wahl der Farben zeigen, dass aus Täuschungen, Verwüstungen und Zufall noch gefiltert werden muss, was später bestehen kann. Dafür ist Bellwinkel vor kurzem in die Vergangenheit gereist, an die Orte von damals, um die Zeichen der Zeit zwölf Jahre danach einzufangen, um zu zeigen, wie das Leben “in diesem labilen Nicht-Zustand zwischen Krieg und Frieden” in eine neue Normalität hineinwächst, jetzt, da der bekannteste “Schlächter vom Balkan” erstmals den Richtern vorgeführt wird.
“Nirgendwo habe ich so einen Willen zum Leben, zur Kultur erlebt”, sagt Bellwinkel. Als er mitten im Krieg in Sarajewo seine ersten Bilder ausstellte, waren die Menschen begeistert – obgleich sie ihrem eigenen Elend ins Gesicht blickten. Es wurden Theatertreffen organisiert und Gedichte bei Kerzenschein gelesen. “Die Leute bügelten ihre Hemden und zogen sich ordentlich an – soweit es ging.” Wie auch an Silvester 1993/1994. Die Frauen tragen Lippenstift, die Männer Krawatte, sie posieren tanzend für die Kamera. Doch die Ausgelassenheit endet in einer tödlichen Nacht. Um die Ecke schlägt eine Granate ein. Bellwinkel tritt auf die Straße. Was er sieht, zeigt das Foto auf der nächsten Seite: Ein Strom aus Blut, der die Straße hinab fließt, um dann vor seinen Füßen in einen Gulli zu tropfen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Bellwinkel Menschen sterben sieht. In Sri Lanka bannte er Mitte der Achtzigerjahre “die unglaubliche Brutalität” des Bürgerkriegs in Bilder, nach dem ersten Golfkrieg fotografierte er im Nordirak. Dann kam Bosnien. “Unglaublich, dass in Europa Krieg war!” Die Deutschen kannten den Balkan vom Urlaub. “Und dann zieht der Pensionswirt einfach eine Uniform an und schießt los.” Einfache Menschen, Busfahrer oder Klempner, denen die Kalaschnikow plötzlich so viel Gewicht verlieh. Zehntausende Menschen hat Karadzic auf dem Gewissen. Und Bellwinkel war ganz nah dran. Er hatte begriffen, dass Netzwerke gerade im Krieg überlebenswichtig ist: “Die haben unheimlich viel gesoffen.” Nach ein paar durchzechten Nächten nahmen die Trinkkumpane ihn dann sogar mit an die Front. Die Gefahr hat den Fotografen wach gemacht. “Wie wach, merkt man erst richtig, wenn man wieder zurück ist und an der Straßenkreuzung nach Heckenschützen Ausschau hält oder Angst vor Minen hat. Dabei tritt man in Berlin höchstens in Hundedreck.”
Jetzt ist Bellwinkel 49 Jahre alt, und über die Hälfte seines Lebens gehört der Fotografie. Nach der Schule reiste er einfach um die Welt. Und verkaufte dabei sogar seine Kamera: “So konnte ich zwei Monate länger weiterreisen.” Das gewöhnliche Leben ließ er zu Hause im Ruhrgebiet. Wie Menschen in ungewöhnlichen Situationen leben, diese Frage zieht sich auch als Leitmotiv durch seine Arbeiten. Ungewöhnlich, das bedeutet nicht nur Krieg und Nachkriegszeit. Vor seiner Studienzeit lebte er in einem besetzten Haus in Bochum. Die Mappe für die Aufnahmeprüfung zeigt das Leben in den besetzten Häusern, Bellwinkels Leben.
Er begann in Essen Fotografie zu studieren, mit Eva Leitolf, die gerade in der Münchner Pinakothek der Moderne “Deutsche Bilder – eine Spurensuche 1992-94 / 2006-07” zeigt, eine Serie, für die sie Orte des Verbrechens Jahre später wieder besucht hat. Doch während Leitolfs Bilder ohne Text nicht funktionieren, sprechen Bellwinkels Bilder für sich. Auch er will die düsteren Kapitel der Geschichte ans Licht holen. “Bei Eva sieht man, wie dünn die Decke unserer Zivilisation ist. Wenn man den Typen von ihren Bildern in Bosnien eine Kalaschnikow in die Hand gedrückt hätte – sie hätten damit rumgeballert.”
Vielleicht wären sie auch dabei gewesen beim Massaker von Srebrenica, das auch Karadzic zu verantworten hatte. Bellwinkel war wieder dort, und konnte nicht glauben, dass er den Ort wiedergefunden hatte: Wo sich Holzkreuze für die Toten bis an den Horizont erstreckten, wo sich die Leichen stapelten, steht jetzt ein Gewächshaus.
Aber nicht überall hat die Zeit die Zeichen überwuchert: Der Glaube ist geblieben. In einem Lazarett lächelt der Papst gütig aus gerahmter Pappe von der Wand. Und was auf einem Foto wie eine Rakete aussieht, ist ein Minarett, das in ein Wohnhaus gekippt ist. Nach zwölf Jahren steht der Turm wieder, und mit ihm zahllose weitere Gotteshäuser – dank internationaler Hilfe: Saudi-Arabien investierte Millionen in bosnische Moscheen, “die als Plattenbauten aus Wellblech das Land verschandeln”.
Auch Menschen von damals hat Bellwinkel wiedergefunden. Er hat nach Namen gefragt, Fotos von früher herumgezeigt. Auf einem Bild schaukeln zwei junge Mädchen an den kahlen Ästen eines Baumes. Zwölf Jahre später: Der Baum blüht, doch die Mädchen gehören nicht mehr zusammen: Die eine, eine Teenagerin mit Jeans und T-Shirt, blickt herausfordernd in die Kamera. Die andere, eine Muslima, steht verschleiert auf der anderen Seite des Stamms.
Er will noch einmal nach Bosnien, vielleicht im Winter. Er muss einfach dieses Bild einer Winterlandschaft wiederfinden: Wie Zwillinge stehen zwei Häuser nebeneinander. Das eine ist heil, die Wäsche hängt auf dem Balkon zum Trocknen. Das andere ist ausgebrannt, zwei Schornsteine ragen wie mahnende Finger in den weißlichen Himmel, ein Gartenzaun rahmt das Haus wie ein Sinnbild der Vergänglichkeit.
Finden muss er auch diese Frau, die auf dem Foto Holzscheite in einen Ofen schiebt. Ein Zopfband fasst ihre langen Haare ein. Am Kopf ist das Haar grau, der Zopf rot gefärbt. Wie die Jahresringe eines Baumes zeigt er, wo der Krieg angefangen und der Frieden aufgehört hat.